Aus dem Ozean der Zeichen

Text zu „ÜZMIR“ Zeichnungen ZYKLUS von 1991 bis heute
von Dr. Martin Engler, Freiburg 2001

Denn wo das Strenge mit dem Zarten,
Wo Starkes sich und Mildes paarten,
Da gibt es einen guten Klang.

Das Lied von der Glocke, Friedrich Schiller

Das Werk Dietrich Schöns ist janusköpfig – auf eine angenehme, immer wieder von neuem überraschende Weise. Zwischen seinen schweren, lastenden Eisengüssen, den mächtigen, tiefschwarzen Holzschnitten und den filigranen Tuschezeichnungen entfaltet sich ein vielschichtiges, sich immer wieder neu erprobendes ästhetisches Repertoire, das gerade in seiner Gegensätzlichkeit, in seinen zuweilen widersprüchlichen Formulierungen zu überzeugen mag.


Allzu gerne ist man zur Hand mit vorschnellen Klassifizierungen: Sicher drängt der Bildhauer in den Vordergrund, dessen vielfältiges Formvokabular von der reduzierten, tektonisch erdverbundenen Setzung bis zum anspielungsreich anekdotischen Vexierstück zwischen Gegenstand und Abstraktion mühelos sich erstreckt. Gerade in letzter Zeit sind es Hybride, in ihrer Vielschichtigkeit irritierende Objekte, die ihren Anspielungsreichtum, ihre diversen Bezüge und Referenzen nie wirklich zur Gänze oder letztgültig einlösen. Es sind metamorphorische Prozesse, deren „strukturelle Dualität und Ambiguität“1 nur momentan und vermeintlich zufällig in der jeweils ausgeführten Variante festgehalten wurde: Ein Fluss der Formen und Ideen, der sich nur verfestigt, um zumindest eine der vielfältigen Möglichkeiten zu realisieren.


Neben der rostbraunen Körperlichkeit und um die rötliche Patina des Metalls erstreckt sich ein immenser, mäandernd sich verzweigender Ozean aus Sepia und Papier. Der Zyklus „ÜZMIR (Übungen zur Mitte)“ wächst seit gut zehn Jahren beständig an. Zwischen zehn- und zwölftausend Blätter umfasst das Konvolut, ein Tagebuch eigentlich, das notiert und bewahrt, was an Formen und Ideen, an Assoziationen und Versuchen aus der Hand des Künstlers fließt. Ein Fluss, der zur unbezwingbaren Flut wird. Der Griff in die abertausend etwas mehr als Din A4 großen Blätter fördert Tagesnotate an die Oberfläche, die sich wesentlich gerade über ihre Entstehung in einem scheinbar ohne Anfang und Ende sich ausbreitenden Prozess definieren. Es sind Einzelbilder, die gleichwohl erst an ihrem Platz im Kontinuum ihre Bedeutung entfalten und mit Nachdruck auf ihrer zeichnerischen Autonomie bestehen. Ein eigener Kosmos in dessen chaotischer Vielheit sich immer wieder neue, überraschende Konstellationen einstellen.

Bezüge ergeben sich untereinander eher als zu den sicher zuweilen aus demselben Ideenfundus schöpfenden Skulpturen. Die Zeichnung ist weder vor- noch nachgängig, sondern behauptet schlicht ihre ästhetische Eigenständigkeit, als zeichnerische Setzung ohne Ziel und Zweck. Und überzeugt gerade hier durch ihre Frische und Leichtigkeit, die zu keinem Moment in manierierte Formspielereien abzugleiten droht. In den Sepia-Abbreviaturen, die mittig – fast vereinzelt – das Blatt beherrschen, tritt der Moment des Hybriden und Passageren noch selbstbewusster in den Vordergrund als in Schöns skulpturalem Werk, wird erst hier in seiner kreativen Spannung zur Gänze fassbar und ästhetisch wirksam.


Zwischen Telefonzeichnung und dem eigenen objekthaften Formvokabular oszillierend, gewinnt das Medium an Autonomie, bildet die aller zeichnerischen Strenge, fast malerische Binnenstrukturen aus. Der freie Schwung der Linie, das satte, dunkle Sepiabraun der Fläche, die zum Teil fast spröde sich verschließende Form gewinnen so eine spielerische Dynamik, eine assoziative Offenheit und Weite. Das metamorphotische, kontinuierlich seine Gestalt neu erfindende Spiel mit Zufall, Unbewusstem und wiederkehrenden Bildideen erhält so eine überraschende poetische Aufladung. Im freien Schwung der Linie, im organischen Ausbuchten der Fläche oder dem anspielungsreichen Zusammenspiel der widerstrebenden Sehangebote entstehen schlichte, gerade in ihrer Reduktion höchst reichhaltige Kunstwelten. Und auch hier verweigern sich die ästhetischen Setzungen Schöns einer eindeutigen Vereinnahmung: Die komplexen, in der Regel hermetisch vereinzelten gegenständlicher Festlegung und abstrakter Form, zwischen subjektiver Eigenweltlichkeit und dem Bereich der Dinge.


Zwischen dem Ozean der Zeichen und jenen daraus empor tauchenden Eisengebilden liegt ein schmaler Streifen des übergangs, in dem aus ephemeren Tagesnotaten hölzerne Druckstöcke gefertigt, eigentlich ihnen abgerungen werden. In einem langsamen, fast mechanischen Prozess entstehen körperhafte Substrate der frei flotierenden Ideenwelt auf Papier, die in ihrer schwarzen Präsenz wie ausgeschnitten wirken: Löcher im Raum der Gegenstände, in dem Spiel mit Form und Abstraktion weitere Varianten beifügen, die skulptural wie graphisch vermittelt die kreative Schnittstelle der Kunst Dietrich Schöns zwischen Idee und Realisation, zwischen Offenheit und Konkretion beschreiben.

Dr. Martin Engler, Freiburg im März 2001

1 Berg, Stephan: Das Gleiten der Bedeutungen, in: Dietrich Schön – Skulpturen und Zeichnungen, Kat. Kunstverein Kirchzarten u.a., Freiburg, 1997. (o.p.)